Dass man sie mal als «Abräumerin» bezeichnen würde, hätte Renata Jungo Brüngger zwar nicht gedacht. Es macht ihr aber auch nichts aus. Sie könnte es, im Gegenteil, sogar als Kompliment auffassen. Sie hat schon viel juristischen Ärger abgeräumt bei Daimler.
Die 59-Jährige bleibt aber diplomatisch: «Ich bin zuständig für das Risikomanagement, und es ist meine ureigene Aufgabe, das professionell zu machen.» Professionell, das heißt in diesem Geschäft vor allem möglichst geräuschlos und ohne allzu forsche Statements, die einem irgendwann auf die Füße fallen könnten.
Seit 2016 verantwortet die Rechtsanwältin aus der Schweiz im Vorstand des Autobauers das Ressort Integrität und Recht, und seit Daimler mit Klagen und Verfahren im Zusammenhang mit der Dieselaffäre überschwemmt wird, gibt es allein dort reichlich abzuräumen.
In den USA konnten Jungo Brüngger und ihr Team im September einen – zumindest weitgehenden – Schlussstrich unter den Abgas-Streit mit Behörden und Autobesitzern ziehen. Die ausgehandelten Vergleiche kosten Daimler umgerechnet gut 1,9 Milliarden Euro. Dafür bleibt dem Konzern – anders als VW – viel weiterer Ärger erspart: kein Schuldeingeständnis, kein Rückkauf betroffener Autos und auch kein von den US-Behörden gestellter Aufpasser.
Eine Art Schlussstrich in Deutschland hingegen ist weiter nicht in Sicht. Am Mittwoch hat der Bundesgerichtshof (BGH) zum zweiten Mal ein Daimler-Verfahren kurz vor dem geplanten Termin abgesagt. Wieder hätte es um die Frage gehen sollen, ob der Autobauer den Besitzern von Mercedes-Dieseln Schadenersatz schuldet, weil in der Steuerung der Abgasreinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung steckt. Und wieder zog der Kläger die Revision vorher zurück. Damit wird es vorerst weiter kein höchstrichterliches Urteil geben.
Das Spielchen kommt einem aus VW-Zeiten bekannt vor – nahte in Einzelverfahren eine Entscheidung in hoher Instanz, zeigten die Wolfsburger sich häufig bereit, sich mit den Kunden relativ großzügig zu vergleichen. Hier ist es allerdings anders. Daimler legt großen Wert darauf, nichts «wegverglichen» zu haben, diesmal nicht und auch im ersten Fall nicht. «Wir hätten eine Klärung durch den BGH in dieser Sache begrüßt», sagt Jungo Brüngger.
Warum der Kläger seine Revision zurückgezogen hat, ist unklar. Anfragen an seine Anwälte in Berlin blieben unbeantwortet.
Die Behörden halten die Funktionen in einer Vielzahl von Autos der Daimler-Kernmarke Mercedes-Benz für illegal. Der Konzern musste und muss deshalb Hunderttausende Fahrzeuge für ein Software-Update in die Werkstätten rufen. Er macht zwar mit, hält die Technik selbst aber für zulässig und hat Widersprüche gegen die Anordnungen eingelegt.
Das Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz, das in Karlsruhe hätte überprüft werden sollen, war aus Daimler-Sicht eine gute Vorlage. «Unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt» stehe dem Kläger ein Anspruch auf Schadenersatz zu, heißt es darin. Eine sittenwidrige Handlung konnten die Richter nicht erkennen – unabhängig davon, ob das «Thermofenster», das die Abgasreinigung je nach Temperatur herunterregelt, eine objektiv unzulässige Abschalteinrichtung darstelle oder nicht. Eine Frage im Übrigen, die zur endgültigen Beurteilung noch immer beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg liegt. Für das Auto, um das es beim BGH hätte gehen sollen, hatte das Kraftfahrt-Bundesamt laut Daimler keinen Rückruf angeordnet.
Nichts läge Jungo Brüngger ferner, als öffentlich etwas zu den Siegchancen am BGH zu sagen. Dass Daimler sich im Recht sieht, daran lässt sie allerdings keinen Zweifel. «Wir sind ganz klar der Ansicht, dass diese Klagen nicht gerechtfertigt sind», betont sie. «Darum verteidigen wir uns auch.»
Daimler selbst spricht von mehr als 4500 Entscheidungen zu seinen Gunsten auf Ebene der Landgerichte und weniger als 250 Niederlagen. Vor den Oberlandesgerichten habe es mehr als 190 Entscheidungen für und gerade einmal zwei gegen Daimler gegeben. Derzeit sei eine niedrige fünfstellige Zahl an Klagen anhängig. Zahlen zu Vergleichen nennt Daimler nicht, betont nur, sie änderten nichts an der Bilanz.
«95 Prozent der Fälle gewinnen wir, aber die Angelegenheit ist komplex», sagt Jungo Brüngger. «Man kann nicht alle Verfahren über einen Kamm scheren.» Sie mag daher auch nicht spekulieren, welche Tragweite eine BGH-Entscheidung haben wird. «Eine Entscheidung des BGH in der Sache hat üblicherweise Relevanz für ähnlich gelagerte Fälle. Wie weit das geht, hängt maßgeblich davon ab, was genau der BGH sagt.» Im jetzt abgesagten Fall geht Daimler davon aus, dass die Entscheidung für mehrere Tausend vergleichbare Fälle in Deutschland hätte Relevanz haben können.
Dass es überhaupt so viele Verfahren sind, dafür macht Jungo Brüngger auch einen aus den USA herübergeschwappten Trend verantwortlich: «Es gibt mittlerweile auch in Deutschland eine Klageindustrie», sagt sie. «Der Mandant sucht nicht mehr seinen Anwalt, sondern der Anwalt sucht seinen Mandanten.» Gleich mehrere große Kanzleien nehmen für sich in Anspruch, im Dieselskandal «führend» zu sein, und werben nach wie vor offensiv um neue Kläger. «Das ist durchaus ein attraktives Geschäftsmodell geworden für einige Kanzleien, die da sehr aktiv ihr Business betreiben», sagt Jungo Brüngger.
Egal, wie sie am Ende ausfallen: Am Landgericht der Daimler-Heimat Stuttgart wäre man sehr froh über klärende Worte aus Karlsruhe. Seit Anfang 2019 sind allein dort rund 5350 Klagen gegen Daimler wegen des Vorwurfs einer unzulässigen Abschalteinrichtung eingegangen, wie eine Sprecherin sagt. Allein im November dieses Jahres waren es rund 630. Und die Ergebnisse fallen mal so und mal so aus, jedenfalls nicht einheitlich. «Wir müssen diese Verfahren schneller in die letzte Instanz bekommen», hatte Gerichtspräsident Andreas Singer im Sommer gesagt – und gehofft, dass das bei Daimler eher gelingt, als es bei VW der Fall war.
Nun wird es mindestens bis kommenden Frühjahr dauern. Der BGH hat für den 9. März einen Termin in einem weiteren Daimler-Fall angesetzt.