Als Referenz zieht Sahil Singh seinen Vater heran: Seit der die Gewürze seines Sohnes für sein Hühnchen nach indischer Art getestet hat, greife er nicht mehr zur eigenen Mischung.
«Das ist der beste Hinweis, dass die gut sind», sagt der Student aus Bad Rappenau bei Heilbronn. Die Gewürze kommen direkt aus Indien, sind handgemahlen. Von Frauen, die in einem Slum leben.
Mit diesen Argumenten – 100 Prozent handgemahlene Ware, Transparenz und Geschmack – wollen Singh und sein Kompagnon Alexander Melnikov im August mit dem Start-up «Lyn’s» an den Markt gehen, benannt nach seiner Mutter. Vor allem auf die Transparenz hebt Singh im Gespräch ab: «Wir kennen unsere Partnerin vor Ort und können Nachhaltigkeit garantieren.» Ein Thema, das Kunden von Schokolade und Kaffee kennen. «Bei Gewürzen macht man sich da keine Gedanken drüber», sagt Singh. Aus seiner Sicht gebe es gerade da Verbesserungsbedarf.
«Auf dem Gewürzmarkt ist ein regelrechter Boom entstanden», sagt Markus Weck, Hauptgeschäftsführer des Fachverbandes der Gewürzindustrie mit Sitz in Bonn. In den vergangenen Jahren hätten sich mehrere neue Unternehmen wie Ankerkraut aus Jesteburg bei Hamburg und Just Spices aus Düsseldorf etabliert.
«Als wir 2014 mit Just Spices gestartet sind, gab es am Markt hauptsächlich Reingewürze und keine vergleichbaren innovativen Gewürzmischungen», sagte Mitgründer Florian Falk. «Unser Ziel war es, den eingestaubten Gewürzmarkt zu revolutionieren.» Als Ankerkraut 2013 anfing, sei die Lage noch günstiger gewesen, «weil die Konkurrenz noch deutlich kleiner war als heute», erklärt Sprecherin Malena Thielebein. Bekannt wurde die Marke vor allem durch den Auftritt in der Fernsehsendung «Die Höhle der Löwen» 2016. Der Umsatz liege inzwischen im mittleren zweistelligen Millionenbereich.
Beide Firmen merken vor allem, dass Corona dem heimischen Kochen einen weiteren Schub verschafft hat. Gerade die Gewürzmischungen etwa zum Grillen seien gefragt. Dass nicht mehr nur Salz, Pfeffer und ein bisschen Paprika ausreichen, geht laut Verbandsgeschäftsführer Weck auf eine wachsende Experimentierfreude bei Verbrauchern zurück. «Die bringen aus dem Fernurlaub neue Rezepte mit.»
Thielebein meint: «Unserer Einschätzung nach ist der Gewürzmarkt noch nicht vollständig gesättigt, es wird für neue Start-ups aber immer schwerer, sich gegen die etablierten Unternehmen am Markt zu beweisen.» Weck sagt: «Start-ups sind die Lieblinge des Einzelhandels.» Sie dienten als Trendbotschafter und verjüngten die Käuferstruktur. Und gerade «junge Premiumshopper» setzten auf nachhaltige Produktion.
Nachhaltigkeit ist dabei an sich kein neues Thema. Marktriese Fuchs aus Dissen am Teutoburger Wald etwa hat das schon seit Jahren auf der Agenda. «Wir wollen wissen, woher die Rohwaren für unsere Produkte stammen und wie sie angebaut, geerntet und transportiert wurden», so Sprecherin Elena Feige. Es geht um Punkte wie die Einhaltung der Menschenrechte, das Verbot von Kinderarbeit und Schutz der Umwelt.
Um die Qualität der Produkte sicherzustellen, beziehe Fuchs Pfeffer, Paprika, Muskat, Zimt oder Knoblauch beispielsweise roh und unvermahlen. Eigene Mitarbeiter oder beauftragte Partner besuchten Lieferanten und schulten unter anderem die geforderten Standards.
Verbandsmann Weck räumt aber ein, dass eine Kontrolle umso schwerer werde, je größer die umgeschlagenen Mengen sind. «Oft geht es um einen Umfang, bei dem man nicht mehr jeden Bauern kennen kann.» Fuchs verweist etwa darauf, dass in Brasilien, woher ein Großteil des Pfeffers und der Paprika kommen, umfänglich Daten zu Erzeugern und Produzenten, Umweltauflagen, Düngung und Ertrag erfasst würden.
Fehlender Überblick und mangelhafte Standards in der Produktion sollen mit dem jüngst vom Bundestag beschlossenen Lieferkettengesetz noch einmal stärker angegangen werden. Die darin enthaltenen Anforderungen zu erfüllen ist aus Sicht von Franziska Humbert, Oxfam-Referentin für Wirtschaft und Menschenrechte, machbar. «Es erfordert einen gewissen Aufwand und Willen.» Die Firmen müssten sich mit ihren Lieferanten auseinandersetzen, könnten dann aber auch was bewirken. «Sie haben ja die Marktmacht», sagt Humbert. Und kleinere Unternehmen setzen sich ihren Erfahrungen nach eher mit der Lieferkette auseinander.
Agrarexperte Philip Kuruvilla von der Organisation National Sustainable Spice Programme (NSSP) aus Indien, einem der Gewürzländer schlechthin, sagt, dass etliche ausländische Firmen zwar wegen entsprechender Nachfrage auf ihren Märkten zunehmend Interesse an sozial fair und biologisch produzierten Gewürzen hätten. Aber nicht alle wollten dann einen angemessenen Preis zahlen. Das NSSP bildet Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in Indien etwa beim Einsatz weniger schädlicher Pestizide weiter und hilft ihnen Käufer zu finden.
Die Studenten aus Baden-Württemberg beziehen die Gewürze für «Lyn’s» von Adhvika Agarwal aus Neu Delhi. Vor ein paar Jahren kamen sie und ihre Mutter auf die Idee mit dem Gewürzgeschäft, unter anderem weil ihre Hausangestellte zu Hause missbraucht worden sei. Um ihr ein Einkommen zu ermöglichen, mit dem sie von ihrem Mann unabhängig werden kann, starteten sie ihr Unternehmen. Mittlerweile mahlen 20 in Vollzeit angestellte Frauen und 80 weitere aus demselben Slum, die bei Bedarf mitarbeiten, Gewürze mit handbetriebenen Mühlen. Je nach Erfahrung erhalten sie umgerechnet 56 bis 112 Euro (5000 bis 10 000 Rupien) pro Monat – ein Einkommen, das in indischen Slums nicht ungewöhnlich ist.
Dank der handbetriebenen Mühlen blieben in Gewürzen mehr Nährstoffe enthalten, erklärt Agarwal. Bei industrieller Produktion entstehe mehr Hitze. Die Rohstoffe kaufe sie von Bio-Bauernhöfen aus ganz Indien. Auch die Kunden waren bislang aus Indien. Hauptsächlich reichere Leute, die sich für gesunde Ernährung interessierten, sagt Agarwal. Mit der Kooperation mit «Lyn’s» verkaufe sie nun erstmals ins Ausland.