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VW-Chef will im zweiten Halbjahr aufholen

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Jul 28, 2021 ,
Herbert Diess, Vorsitzender des Vorstands der Volkswagen AG, posiert bei einem Fotoshooting auf dem Balkon über dem Firmengelände in Wolfsburg. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Carsten Koall/dpa)

Europas größter Autobauer Volkswagen will sich nach einem starken ersten Halbjahr nicht von den Lieferproblemen in der Branche aus der Bahn werfen lassen.

Konzernchef Herbert Diess rechnet zwar mit anhaltenden Belastungen aus der Knappheit bei Chip-Bauteilen und aus teureren Rohstoffen. Auch die Autopreise könnten womöglich weiter anziehen. Die Corona-Folgen dürften den Geschäftsbetrieb der Wolfsburger aber nicht mehr grundlegend auf den Kopf stellen, sagte Diess im Gespräch mit den Nachrichtenagenturen dpa und dpa-AFX.

«Von daher bin ich insgesamt für die zweite Jahreshälfte zuversichtlich», erklärte der 62-Jährige, der kürzlich einen Vertrag über vier weitere Jahre an der Vorstandsspitze erhielt. Durch mögliche neue Infektionswellen werde es immer wieder zu logistischen Herausforderungen kommen. Er halte den Konzern jetzt aber für gut vorbereitet. «Wir werden sicherlich noch weitere Einschränkungen erleben», betonte Diess. Die bisherige Arbeit zeige jedoch, «dass wir durch hohen Einsatz das eine oder andere Problem deutlich entschärfen und mit Flexibilität in der Produktion viele Autos retten können».

Mit Blick auf die langen Wartezeiten für Kunden und wirtschaftliche Folgen durch die Versorgungskrise meinte der Konzernchef: «Ich gehe davon aus, dass wir das im vierten Quartal aufholen können.» Im ersten Halbjahr hatte VW wegen Lieferengpässen bei Elektronik-Chips eine hohe sechsstellige Zahl an Autos nicht wie geplant bauen können.

Eine schnelle Lösung sei nicht zu erwarten – denn die Verknappung der Halbleiter sei wegen des «Internets der Dinge» mit vielen vernetzten Geräten wohl nachhaltig: «Es fällt uns in der Tat schwer, die Lieferzusagen für 2023/2024 für unsere Bedarfe zu bekommen.» Autos machten aber weltweit auch nur rund zehn Prozent des Halbleitermarkts aus. «Das sollte also schon ein beherrschbares Problem sein.»

Mit dem Chipmangel hätten die derzeit recht hohen Anschaffungskosten für Neuwagen nur bedingt zu tun. «Die Preise sind weniger durch Halbleiter beeinflusst», sagte Diess. «Aber wir haben natürlich insgesamt einen starken Rohstoffpreis-Anstieg, das geht über Stahl bis hin zu vielen unserer Primärwerkstoffe. Und es wird wahrscheinlich nicht möglich sein, das alles aufzufangen.» Für die Autobestellungen gelte: «Wir würden natürlich gern jeden Kundenwunsch bedienen, und natürlich sind die Lieferzeiten, die wir momentan haben, zu lang.» Im vierten Quartal könne eine Verbesserung anstehen.

Grundsätzlich sei die Nachfrage nach dem Corona-Schock wieder da: «Wir haben einen guten Auftragsbestand – so gut wie selten zuvor.» Auch die bis mindestens 2025 noch über Kaufprämien zusätzlich angekurbelte Nachfrage nach Elektrofahrzeugen entwickle sich stark.

«Die Anfangsinvestitionen im Kleinwagensegment sind höher, ja», räumte Diess bezogen auf neue E-Autos ein. «Aber auch wir arbeiten an einer Einstiegsplattform, die Autos kommen 2025.» Er schätzt: «Durch die niedrigen elektrischen Verbrauchskosten, deutlich geringere Wartungskosten und vielleicht auch niedrigere Versicherungsprämien wird Elektromobilität günstiger als Verbrennermobilität.»

Diess hatte nach seiner Amtsübernahme 2018 den E-Antrieb ins Zentrum gerückt. Entscheidend sind ihm zufolge besserer Lademöglichkeiten. Staatliche Elektroprämien könnten mittelfristig verzichtbar sein – «vielleicht, in einigen Jahren». Er forderte: «Aber man muss dann auch die Bevorzugung von fossilen Kraftstoffen zurückfahren.»

Der Diesel werde in Deutschland noch immer steuerlich gefördert. «Ist das sinnvoll in einer Zeit, in der wir Plug-in-Hybride haben, die auch auf der Langstrecke ähnlich effizient sind wie der Diesel, vielleicht sogar besser?», so Diess. «Und wir haben schon Märkte wie Norwegen, wo der Verbrenner so stark benachteiligt wird gegenüber dem Elektrofahrzeug, dass fast immer Elektrofahrzeuge gekauft werden.»

Die Weltregionen müssten differenziert betrachtet werden. VW hält ein pauschales Ausstiegsdatum für den Verbrenner für wenig sinnvoll, was manche Klimaschützer kritisieren. «Ich glaube schon, dass wir gut daran tun, etwa in Lateinamerika – wo es zum Beispiel eine funktionierende, flächendeckende Versorgung mit Bioethanol gibt – gar nicht über ein Verbrenner-Ausstiegsdatum diskutieren», argumentierte Diess. Auch Polen sei beispielsweise mit überwiegendem Kohlestrom in einer anderen Lage als Spanien oder Norwegen mit mehr Ökoenergien.

Derzeit plant der VW-Konzern für Europa mit sechs Batteriezellwerken, um den erwarteten Nachfragezuwachs bedienen zu können. Die Chancen einer zweiten großen Fabrik in Deutschland neben Salzgitter wollte Diess noch nicht näher kommentieren: «Wir haben eine große politische Nachfrage nach Investitionen in die Zellfertigung – auch in Ländern, die mit der Elektrifizierung noch nicht so weit sind.» Das werde «ein interessanter Wettbewerb», es gebe aber auch «genug zu verteilen».

Zuletzt hatte Diess die VW-Strategie bis 2030 festgelegt. Nach dem Wandel zum E-Antrieb sollen Vernetzung und Software eine Hauptrolle spielen, unter anderem beim autonomen Fahren. Womöglich werde man als Verbraucher selbstfahrende Autos komplett kaufen können – eventuell auch tage-, stunden- oder kilometerweise für die Funktionen bezahlen. «Es braucht erst einmal Testflotten und Pilotbetriebe», sagte Diess. «Sobald es geht, wird es wahrscheinlich nicht zu teuer sein.»

Im Software-Bereich will VW weitere Experten anheuern, um sich mehr Fachwissen ins Haus zu holen. Reine Verschlankung ist für Diess kein Wert an sich: «Was zählt, ist, schneller und geschickter in die neue Autowelt zu transformieren. Und mit der neuen Strategie konzentrieren wir uns noch stärker auf Skalen und damit Plattformen bei Hardware und Software, bei Batterie und Laden und bei den Dienstleistungen.»

Von Jan Petermann, Marco Engemann und Jörg Fiene, dpa/dpa-AFX