Im Supermarkt klaffen Lücken im Regal, Milchbauern bleiben auf ihrer Milch sitzen, bei Ikea fehlen die Matratzen und in Kläranlagen mangelt es an wichtigen Chemikalien. Es gibt kaum eine Branche, die dieser Tage in Großbritannien nicht klagt.
Der Grund ist fast immer der gleich: Es fehlen Menschen, die Dinge von A nach B bringen. Das sind in der Regel Menschen, die Lastwagen fahren. Laut Branchenverband Road Haulage Association hat Großbritannien zurzeit rund 100.000 zu wenig von ihnen.
Das liegt – wie so oft – auch am Brexit und seinen Hürden. Zudem hat die Corona-Pandemie die Lage verschärft. Doch Experten rechnen nicht damit, dass die Insel mit dem Problem allein bleiben wird. «Was in Großbritannien passiert, ist durch den Brexit beschleunigt. Ich gehe aber fest davon aus, dass wir in Westeuropa die gleiche Situation haben werden, nur etwas zeitversetzt», sagt Dirk Engelhardt vom Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. «Wir warnen davor, dass wir auch in Westeuropa sehenden Auges in einen Versorgungskollaps laufen.»
Auch in Deutschland fehlten bereits zwischen 60.000 und 80.000 Fernfahrer, so Engelhardt – Tendenz steigend. Jährlich gingen rund 30.000 Fahrer in Rente und nur rund 15.000 Nachwuchskräfte kämen nach. «Es gibt eine weltweite Not an Fahrern.»
Der Mangel hat viel damit zu tun, dass der Beruf des Lastwagenfahrers oder der – bislang noch seltener vorkommenden – Lastwagenfahrerin immer weniger als attraktiv wahrgenommen wird. Lange Wartezeiten in Staus, schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf und ein großer Mangel an geeigneten Parkplätzen, auf denen es sich sicher stehen oder auch duschen und essen lässt. Außerdem werden Lastwagen als große, laute Umweltverschmutzer wahrgenommen, die andere Verkehrsteilnehmer nicht etwa versorgen, sondern eher stören. «Das schlechte Image treibt die Fahrer um. Wir brauchen eine neue Wahrnehmung des Berufs», meint Engelhardt.
Während der Fahrermangel in Deutschland noch vielerorts unbemerkt bleibt, zeigt er sich im Vereinigten Königreich mittlerweile schon beim Supermarkteinkauf. Immer wieder gibt es Engpässe bei verschiedenen Produkten und in den Regalen klaffen ungewohnt große Lücken. Die BBC interviewte einen Milchbauern, der kurz davor stand, Tausende Liter Milch wegschütten zu müssen, da sie nicht wie gewohnt abgeholt wurde. Der «Guardian» berichtete über gelockerte Regeln für Kläranlagen, die bestimmte Abläufe nicht durchführen können, weil ihnen die entsprechenden Chemikalien fehlen. Die ersten Supermärkte rechnen mit Preissteigerungen, wenn es so weiter geht – und eine Besserung der Lage ist vorerst nicht in Sicht.
Ein Sprecher von Premierminister Boris Johnson sagte am Freitag, anders als der Lebensmittelverband gehe man nicht davon aus, dass die Knappheiten von Dauer sein werden.
Während der Pandemie haben viele europäische Fahrer, etwa aus Polen oder Rumänien, Großbritannien verlassen und sind zu ihren Familien in ihren Heimatländern zurückgekehrt. Dass viele von ihnen wohl nicht wieder zurückkehren werden, hat gleich mehrere Gründe. Einerseits ist seit dem Brexit die Freizügigkeit für EU-Arbeitskräfte vorbei und es sind aufwendige und teure Visa-Verfahren notwendig. Gleichzeitig werden aber auch in vielen anderen europäischen Ländern Fahrer benötigt, sodass die Anziehungskraft Großbritanniens schwindet.
Neue Handelshürden und Kontrollen an der Grenze erschweren die Situation zusätzlich. Der Mangel trägt auch zum sinkenden Export in die EU bei, wie die Britische Handelskammer betont. Das trifft auch den Handel mit Deutschland: Zum ersten Male seit mehr als 70 Jahren könnte Großbritannien nicht mehr unter den zehn wichtigsten Handelspartnern der Bundesrepublik auftauchen, wie aus aktuellen Daten hervorgeht.
Die britische Wirtschaft ist insgesamt schwach in das zweite Halbjahr gestartet. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) stieg im Juli um 0,1 Prozent gegenüber dem Vormonat, wie das Statistikamt ONS am Freitag mitteilte. Die gesamte Wirtschaftsleistung liegt immer noch 2,1 Prozent unter dem Niveau, das sie vor der Corona-Pandemie erreicht hatte. Steigende Corona-Infektionen und eine ausgeprägte Knappheit an Materialien und Arbeitskräften bremst die Erholung. Hinzu kommt die hohe Knappheit an Lkw-Fahrern.
Die Road Haulage Association fordert erleichterte Visa-Regeln für ausländische Kräfte. Dirk Engelhardt vom deutschen Branchenverband ist jedoch skeptisch, dass damit das Problem gelöst werden kann. Er plädiert mit Blick auf Deutschland für die Genehmigung längerer Lastwagen, in denen Fahrer mit integrierten Sanitäranlagen und besserer Ausstattung autarker ihre Ruhezeiten verbringen können.
Andernfalls sieht Engelhardt schwarz: «Hamsterkäufe wie zu Beginn der Corona-Pandemie könnten zum Daily Business werden, wenn nicht schnell gegengesteuert wird», meint der Logistikexperte – und er ist nicht allein. In Großbritannien warnte der Chef der Supermarktkette Iceland bereits davor, dass womöglich Weihnachten ausfallen müsse, wenn sich nicht endlich etwas ändere. Denn schon jetzt sei absehbar, dass es mit den üblichen Vorräten, die Märkte normalerweise vor den Feiertagen anlegen, schwierig werden könnte.