• Fr. Nov 22nd, 2024

Null Mehrwertsteuer für Obst, Gemüse und Milch?

Obst- und Gemüsesorten in einem Berliner Supermarkt. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Wolfgang Kumm/dpa)

Angesichts stark steigender Lebensmittelpreise rückt auch die Möglichkeit eine Mehrwertsteuersenkung bei Nahrungsmitteln in den Blick. Sozial- und Verbraucherverbände forderten die Bundesregierung dazu auf, neue EU-Regeln zu nutzen und bestimmte Produkte, wie Obst und Gemüse, komplett von der Steuer zu befreien.

Bundesagrarminister Cem Özdemir (Grüne) unterstützte die Forderungen, verwies aber auf die Zuständigkeit des Finanzministeriums bei Steuerfragen. Von Wirtschaftsforschern kam sowohl Zustimmung als auch Kritik. Der Handelsverband äußerte sich skeptisch.

«Vorschlag mit doppelter Dividende»

«Wenn wir Obst und Gemüse billiger machen, entlasten wir die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht nur vergleichsweise kostengünstig, sondern fördern dazu auch noch eine gesunde Ernährung durch die gewonnene Lenkungswirkung», sagte Özdemir am Donnerstag der Deutschen Presse-Agentur. «Das wäre ein Vorschlag mit doppelter Dividende, wie ich sie bevorzuge.»

Durch die hohe Inflationsrate kämen immer mehr Menschen an ihre finanziellen Grenzen, sagte die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, der dpa. Geringverdiener, Rentner und Grundsicherungsempfänger wüssten nicht mehr, wie sie Lebensmittel oder ihre Stromrechnung bezahlen sollten. «Der VdK fordert deshalb, die Mehrwertsteuer für Grundnahrungsmittel drastisch zu senken, und zwar auf null Prozent. Die Bundesregierung muss diese Möglichkeit, die es nun für alle EU-Mitgliedsstaaten gibt, voll ausschöpfen.»

In Deutschland liegt der Regelsatz bei 19 Prozent. Der reduzierte Satz von 7 Prozent subventioniert Produkte, die dem Gemeinwohl dienen – darunter auch Grundnahrungsmittel wie Milch, Fleisch oder Backwaren.

«Beitrag für klimafreundliche Lebensmittelproduktion»

Der Verbraucherzentrale Bundesverband sprach sich für eine völlige Abschaffung der Mehrwertsteuer speziell bei Obst, Gemüse und Hülsenfrüchten aus. Dies würde die Auswirkungen steigender Preise abfedern, was aktuell gerade für Haushalte mit niedrigem Einkommen wichtig sei, sagte Lebensmittel-Referentin Christiane Seidel. «Gleichzeitig würde es vielen Menschen eine gesunde Ernährung erleichtern und einen Beitrag für eine klimafreundliche Lebensmittelproduktion leisten.»

Ähnliche Forderungen kommen von der Deutschen Diabetes Gesellschaft. «Eine gesunde Ernährung darf keine Frage des Geldbeutels sein», sagte Geschäftsführerin Barbara Bitzer. Die Bundesregierung müsse die neuen rechtlichen Spielräume nutzen und die Mehrwertsteuer für Gemüse und Obst abschaffen. Sie forderte im Gegenzug, «die Hersteller überzuckerter Getränke» zur Kasse zu bitten. «Zuckergetränke sind ein wesentlicher Treiber für Adipositas und Diabetes.» Die Hersteller bräuchten wirksame Anreize, den Zuckergehalt drastisch zu reduzieren.

Umsetzung Sache des Finanzministeriums

Nach Ansicht Özdemirs käme eine Mehrwertsteuerabsenkung bei gesunden Lebensmitteln besonders denen zugute, die kaum oder keine finanziellen Spielräume hätten. Prüfung und Umsetzung möglicher Mehrwertsteueränderungen seien aber Sache des Finanzministeriums.

Das Leben in Deutschland hat sich seit Beginn des Ukraine-Kriegs sprunghaft weiter verteuert, Entspannung bei den Verbraucherpreisen ist vorerst nicht in Sicht. Energie und auch Lebensmittel werden zusehends teurer. Im März kosteten Nahrungsmittel nach Angaben des Statistischen Bundesamts 6,2 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Teurer wurden vor allem Speisefette und Speiseöle (plus 17,2 Prozent) sowie frisches Gemüse (plus 14,8 Prozent).

Ein Ansetzen bei der Mehrwertsteuer könnte vor allem Menschen mit geringen Einkommen unterstützen – da sie einen größeren Teil ihres monatlichen Einkommens für Lebensmittel ausgeben als Menschen mit hohem Einkommen, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) erläuterte. DIW-Präsident Marcel Fratzscher sagte der «Augsburger Allgemeinen»: «Die Bundesregierung sollte den reduzierten Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent temporär abschaffen, da dadurch vor allem Lebensmittel und andere Dinge der Grundversorgung günstiger würden und den Menschen schnell und unbürokratisch Hilfe zukäme.»

Kiel Instituts für Weltwirtschaft: das ist keine Lösung

Der Vizepräsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft, Stefan Kooths, sieht darin keine Lösung. Steigende Preise spiegelten größere Knappheiten wider, die der Staat nicht beseitigen könne, sagte er der «Rheinischen Post». «Wenn der Staat wirksam etwas gegen höhere Lebensmittelpreise tun möchte, dann sollte er über die Freigabe von landwirtschaftlichen Nutzflächen nachdenken.»

Auch der Handelsverband HDE äußerte sich kritisch. Das Drehen an der Mehrwertsteuerschraube sei der falsche Weg. Denn damit würden auch Haushalte begünstigt, die die steigenden Preise tragen könnten. Stattdessen solle die Bundesregierung die staatlichen Transfers entsprechend erhöhen.

Von Jörg Ratzsch und Sascha Meyer, dpa