Die strengen Schuldenvorgaben in der Europäischen Union sollen angesichts der Ukraine-Krise um ein weiteres Jahr länger ausgesetzt bleiben. Die EU-Kommission schlägt vor, den sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspakt erst 2024 wieder vollständig in Kraft zu setzen.
Grund seien hohe Unsicherheit wegen des Kriegs in der Ukraine, hohe Energiepreise und Engpässe bei den Lieferketten, teilt die Brüsseler Behörde mit. «Wir sind weit von der wirtschaftlichen Normalität entfernt», sagt Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni.
Länder sollen vorsichtig investieren
In ihren jährlichen wirtschaftspolitischen Empfehlungen rät die EU-Kommission den Ländern, in die Energiewende und die Digitalisierung zu investieren. Gleichzeitig sollten sie ihre weiteren Ausgaben kontrollieren, insbesondere Staaten mit hohen Schulden wie Italien. «Wir schlagen keine Rückkehr zu unbegrenzten Ausgaben vor», sagt Gentiloni. Ziel sei es, von der universellen Unterstützung während der Pandemie zu gezielteren Maßnahmen überzugehen.
Die Schulden- und Defizitregeln waren während der Corona-Krise ausgesetzt worden und sollten eigentlich ab 2023 wieder gelten. Der Vorschlag der EU-Kommission wird nun den EU-Ländern vorgelegt. Die Behörde will zudem nach dem Sommer konkrete Vorschläge für eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts vorlegen, die dann im Laufe des kommenden Jahres in Kraft treten könnte.
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt sieht vor, dass EU-Länder nicht mehr als 60 Prozent der Wirtschaftsleistung an Schulden aufnehmen. Haushaltsdefizite sollen bei 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gedeckelt werden. Viele Länder überschreiten diese Grenzwerte, vor allem, weil sie während der Corona-Pandemie hohe Schulden aufnehmen mussten, um die Wirtschaft zu stützen.
Deutschland: Ausgebremste Investitionen
Auch Deutschland überschreitet diese Werte mit einem Schuldenstand von 69 Prozent des BIPs im vergangenen Jahr und einem Defizit von 3,7 Prozent, wie aus einem länderspezifischen Bericht der Kommissionhervorgeht. Moniert wurde wie in vorherigen Jahren auch der hohe Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands – also dass unter anderem mehr exportiert als importiert wird – und eine niedrige Investitionsrate. Dies schaffe ein Ungleichgewicht gegenüber anderen Ländern. Mehr private und öffentliche Mittel sind nach Angaben der Kommission für die Energiewende und die Digitalisierung notwendig. Unter anderem bürokratische Hürden hätten Investitionen zurückgehalten.
Die Kommission warnte zudem, dass die deutsche Wirtschaft besonders von dem Krieg in der Ukraine betroffen sei – etwa wegen der Abhängigkeit von russischem Gas und anderen Rohstoffen aus Russland und der Ukraine. «Die Verschärfung von Lieferketten-Engpässen und gestiegene Kosten und Preise bremsen das Wirtschaftswachstum», heißt es in dem Bericht. Deutschland müsse seine Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen verringern.
Schuldenquote sinkt um drei Prozent
Insgesamt hatte die EU-Kommission die Entwicklung der staatlichen Haushalte zuletzt positiv bewertet. Die durchschnittliche Schuldenquote werde dieses Jahr auf 87 Prozent sinken im Vergleich zu 90 Prozent im vergangenen Jahr, hieß es in der Frühlingsprognose der Behörde. Die durchschnittlichen Defizite sollen voraussichtlich von 4,7 Prozent auf 3,6 Prozent der Wirtschaftsleistung sinken. Ihre Wachstumsprognose musste die EU-Kommission allerdings wegen des Kriegs in der Ukraine drastisch anpassen – von 4 auf 2,7 Prozent für dieses Jahr.