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Industrie rüstet sich für Gasstopp

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Jul 10, 2022
Blick auf die Rohrsysteme und Absperrvorrichtungen der Gasempfangsstation der Ostseepipeline Nord Stream 1 in Lubmin. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Jens Büttner/dpa)

Was passiert, wenn Putin wirklich den Gashahn ganz zudreht? Die deutsche Industrie blickt voller Sorge auf die mehrtägige Wartung der Pipeline Nord Stream 1 ab diesem Montag. Dann soll durch die zuletzt wichtigste Verbindung für russisches Erdgas kein Gas mehr nach Deutschland fließen.

Grund sind jährlich wiederkehrende Wartungsarbeiten. Doch Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat Bedenken geäußert, es könne nicht nur bei einer vorübergehenden Abschaltung bleiben. Denn das russische Staatsunternehmen Gazprom hatte schon im Juni die Liefermenge von Russland nach Mecklenburg-Vorpommern deutlich gedrosselt.

Auch die russischen Gaslieferungen über andere Leitungen nach Deutschland sind zuletzt zurückgegangen. Und mehrere europäische Staaten bekommen schon kein Gas mehr aus Russland. Wie aber soll Deutschland ohne Putins Gas über den Winter kommen?

Chemische Industrie stark betroffen

Vor allem in der energiehungrigen Chemie- und Pharmaindustrie sind die Sorgen vor einem Gasmangel groß. Die Branche ist laut dem Verband der Chemischen Industrie (VCI) mit einem Anteil von 15 Prozent größter deutscher Gasverbraucher. Sie braucht Gas als Energiequelle und als Rohstoff zur Weiterverarbeitung in Produkten – etwa in Kunststoffen, Arzneien oder Düngemitteln. Die Preise für Gas seien derzeit «atemberaubend» hoch, sagte VCI-Präsident Christian Kullmann am Mittwoch. Um lieferfähig zu bleiben, stocke die Branche Lager auf, um Kunden im Krisenfall trotzdem weiter versorgen zu können.

«Wir bereiten uns für eine Drosselung oder sogar Einstellung der Gasimporte vor», sagte VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup. Die Unternehmen im Süden und Südosten Deutschlands würden wegen des Pipelines-Systems als Erstes leiden. Im Norden und Westen ist die Versorgung über Häfen hingegen einfacher.

Längst laufen in Unternehmen Vorbereitungen für den Ernstfall. Die Folgen großer Ausfälle beschrieb Martin Brudermüller, Chef des weltgrößten Chemiekonzerns BASF, schon im April: Man müsse am größten Standort Ludwigshafen die Produktion zurückfahren oder ganz herunterfahren, «wenn die Versorgung deutlich und dauerhaft unter 50 Prozent unseres maximalen Erdgasbedarfs sinkt».

Der Pharma- und Spezialchemiekonzern Merck stellt sich derweil darauf ein, die Produktion an seinen europäischen Standorten auch mit einer reduzierten Gasmenge weiter zu steuern. «So können wir beispielsweise einige Produktionsprozesse teilweise auch auf flüssige Brennstoffe umstellen», teilte der Konzern mit. Das wäre aber deutlich teurer. Oberstes Ziel sei dabei immer die Versorgung von Patienten und Partnern mit lebenswichtigen Medikamenten und kritischen Produkten.

Stahlsektor: Nur bedingt flexibel

Beim Stahlkonzern ThyssenKrupp Steel Europe sind Möglichkeiten, bei der Produktion Gas einzusparen, «nur sehr geringfügig vorhanden», wie ein Sprecher sagt. Auch eine Umstellung von Erdgas auf Erdöl oder Kohle sei nicht oder nur in vernachlässigbarem Umfang möglich. «Einschränkungen in der Versorgung sind zugleich mit Einschränkungen in der Produktion verbunden, können von uns aber bis zu einer bestimmten Schwelle umgesetzt werden.» Ein Mindestbezug sei zur Aufrechterhaltung der Produktion aber unverzichtbar. Sonst seien Stilllegungen und technische Schäden nicht auszuschließen.

Derzeit ist die Gas-Versorgung in Deutschland noch stabil. Bei einer Mangellage wäre die Industrie aber als Erste davon betroffen. Als geschützt gelten hingegen private Haushalte, öffentliche Einrichtungen sowie die Gesundheitsbranche etwa mit Krankenhäusern.

Sollte die Energie nicht für alle Verbraucher reichen, müssten besonders sensible Bereiche bevorzugt werden, betont der Dax-Konzern Fresenius, der die Klinikkette Helios betreibt. «Hierzu zählen unsere Krankenhäuser als Teil der kritischen Infrastruktur.» Fresenius habe sich für einen Gasmangel gerüstet. «Dazu zählen eigene Initiativen, um unsere Einrichtungen zu bevorraten, alternative Energiequellen zu erschließen und Energie noch effizienter zu nutzen.»

Forschung bleibt optimistisch

Doch wie hoch ist die Gefahr eines Gasengpasses denn nun? Beim Blick auf vor kurzem veröffentlichte Berechnungen der Bundesnetzagentur konnte man durchaus in Sorge geraten, denn in immerhin drei von sieben Szenarien ergab sich dabei ein Gasmangel im kommenden Winter.

Eine jüngere Gemeinschaftsdiagnose von mehreren deutschen Wirtschaftsforschungsinstituten kommt dagegen zum Schluss, dass selbst bei einem sofortigen kompletten Stopp von Nord Stream 1 auch im ungünstigsten Fall dieses Jahr kein Gasengpass mehr drohe und im kommenden Jahr auch nur in eher ungünstigen Szenarien.

Die Wirtschaftswissenschaftler haben dafür 1000 Kombinationen aus 26 Faktoren gerechnet, wie Stefan Kooths vom Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) erklärt. Dadurch simuliere man verschiedene Szenarien. Beispiele für die Faktoren auf der Angebotsseite ist die Frage, wie viel Flüssiggas (LNG) über die Niederlande nach Deutschland kommen könne oder auf der Verwendungsseite, wie viel Gas durch andere Energieträger ersetzt werden könne.

In der Mitte der Prognosen sehen die Forscher keine Gaslücke mehr in diesem oder kommenden Jahr. Das liegt vor allem daran, dass sich die Speicher gefüllt haben. Völlige Entwarnung geben sie aber nicht. Bei einem kompletten Lieferstopp im Juli ergebe sich für kommendes Jahr im schlimmsten der 1000 Szenarien eine Gaslücke von 157.600 Gigawattstunden. Nimmt man die Nummer 200 der ungünstigsten Szenarien, sind es aber nur noch 23.800 Gigawattstunden, die fehlen.

Noch im April hatten die Wirtschaftsforscher deutlich stärkere Auswirkungen eines sofortigen Lieferstopps ausgemacht. Den Unterschied zur aktualisierten Prognose machte, dass die Gasspeicher sich nach und nach füllen. Zum Zeitpunkt der Berechnungen waren sie zu 58 Prozent gefüllt. Inzwischen sind es der Plattform AGSI zufolge geschätzte 63,4 Prozent. Dieser Anstieg führt allerdings nicht zu einer starken Verbesserung der Szenarien, wie Kooths erklärt.

Von Alexander Sturm und Christof Rührmair, dpa