Schiffsführer Daniel Cornelis Hartog blickt beim weltberühmten Loreley-Felsen von seinem Steuerhaus 14 Meter auf den Rhein hinunter: «Diese Kiesbank ist auch neu. Sonst fließt hier Wasser drüber.» Seit Wochen regnet es kaum, die Pegelstände sinken, Uferzonen fallen trocken, neue Inseln steigen auf.
Das Niedrigwasser beeinträchtigt bundesweit zunehmend die Binnenschifffahrt. Erinnerungen an 2018 werden wach: Damals haben bei extrem gesunkenen Pegelständen etwa Tankschiffe so wenig Kraftstoffe transportiert, dass manche Tankstellen zeitweise trockengefallen sind. Wird es 2022 noch schlimmer? Auch für die kommenden Tage sagt der Deutsche Wetterdienst nur wenig Regen im Hochsommer voraus. Im Zuge des Klimawandels erwarten Experten generell mehr Niedrigwasserphasen.
Der rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz (SPD) wohnt in Kamp-Bornhofen am Rhein und sagt: «Der Unterschied zum Niedrigwasser 2018 ist, dass wir es jetzt viel früher im Jahr haben.» 2018 ist der Pegelstand bei Kaub im Welterbe Oberes Mittelrheintal erst am 22. Oktober auf seinen Rekordwert von 25 Zentimeter gesunken. Viel Zeit also nun noch für weiter fallende Wasserstände, bevor die Herbst- und Winterniederschläge erwartet werden. Die willkürlich angebrachten Flusspegel zeigen nur eine relative und keine absolute Wassertiefe.
Nur noch mit wenig Ladung
Michel Girard, ebenfalls wie Hartog Kapitän auf dem Containerschiff «Alorba», sagt: «Wir können nur noch ein Drittel oder ein Viertel laden.» Sonst drohe ein Auflaufen auf der Flusssohle. Die «Alorba» bildet mit einem davor gekoppelten Schiff ohne Motor (Leichter) plus zwei seitlich vertäuten Leichtern einen sogenannten Schubverband, 183 Meter lang und 23 Meter breit. «Wir haben 1400 Tonnen geladen», erklärt Girard. Etwa Gartenmöbel, Elektro-Tretroller, Fahrräder und Pferdesattel in den Containern. «1600 Tonnen wären unsere Grenze», sagt Girard. «Normal könnten wir 5000 Tonnen laden.» Sein Kollege Hartog vermutet: «Wenn es auch den ganzen August so wenig regnet wie im Juli, ist es unsicher, ob wir im September noch fahren.»
2018 sollen Milliardenverluste entstanden sein, weil sehr viele Binnenfrachtschiffe nur zum Teil beladen werden konnten. Manche Fahrgastschiffe und Fähren haben damals ihren Dienst einstellt – und auch jetzt schon können sie nicht mehr alle Anlegestellen anfahren.
Auf der Elbe sind gegenwärtig wegen Niedrigwassers laut dem Bundesverband der Deutschen Binnenschifffahrt (BDB) mit Sitz in Duisburg schon seit Wochen keine Frachter mehr unterwegs. Rund 7350 Kilometer Bundeswasserstraßen gibt es – große Flüsse sowie Kanäle. Der Rhein ist dabei eine der verkehrsreichsten Wasserstraßen der Welt. Laut dem BDB sind in Europa rund 10 000 Güterschiffe inklusive Leichter unterwegs, darunter etwa 2000 in Deutschland registrierte Schiffe. Bei Flüssen mit Staustufen wie Mosel, Main und Neckar ist Niedrigwasser weniger ein Problem, weil sich ihr Pegelstand regulieren lässt. Der Rhein ist nördlich vom baden-württembergischen Iffezheim nicht mehr staugeregelt.
Also auch nicht bei der Loreley. Die «Alorba» muss an dieser kurven- und strömungsreichen Engstelle im Welterbe Oberes Mittelrheintal mit der wohl höchsten Burgendichte der Welt warten. Schiffsführer Hartog schaut auf eine Art Riesenampel, die sogenannte Wahrschau, die zwei Querbalken anzeigt. «Uns kommen drei Schiffe entgegen. Die fahren zu Tal (flussabwärts) und können weniger gut stoppen, deshalb haben sie Vorfahrt», sagt Hartog. Auf der aufgetauchten Kiesbank tummeln sich Ausflügler in Badekleidung. Daneben zücken Touristen auf einem Campingplatz ihre Handys, um den Schubverband vor der Loreley in der Abendsonne zu fotografieren oder zu filmen. Manche winken.
Nun auch noch Kohletransporte
Laut BDB-Geschäftsführer Jens Schwanen verschärft das Niedrigwasser das Gerangel um knappen Schiffsraum in Zeiten von Ukraine-Krieg und Energiekrise. Zur ohnehin hohen Nachfrage von Industrie, Landwirtschaft und Handel kämen Kohletransporte beim Wiederhochfahren der Kohlekraftwerke und vorerst die Beförderung ukrainischen Getreides. «Die Zahl der Binnenschiffe ist begrenzt», sagt Schwanen. «Lkw sind keine grundsätzliche Alternative, weil wir so viel größere Mengen transportieren. Schon ein 110-Meter-Schiff kann bis zu 3000 Tonnen befördern», erklärt der BDB-Chef. «Verteilen Sie das mal auf Lkw.» Und Bahnunternehmen? Diese müssten ebenfalls schon eine starke Nachfrage bedienen – bei insgesamt zu wenigen Waggons und Lokführern.
Um den Verdienst der Binnenschiffer sorgt sich Schwanen nach eigenen Worten weniger – das Zauberwort heißt hier Kleinwasserzuschlag: Den müssen Frachtkunden bei Niedrigwasser je nach Pegelstand und Vertrag zusätzlich zahlen. Das kann Transporte für sie merklich verteuern.
Den BDB-Geschäftsführer treiben eher die Beschränkungen der Bundeswasserstraßen um. Etwa das Schiffshebewerk Scharnebeck des Elbe-Seitenkanals, in das kein 110-Meter-Güterschiff passe und wo sich ein Neubau hinziehe. Auch die dringend nötige Vertiefung des Untermains bis zum bayerischen Aschaffenburg sei noch nicht einmal in der Planung. Besonders wichtig ist dem BDB die Beseitigung von sechs Flachstellen im Oberen Mittelrheintal, einem Nadelöhr der Schifffahrt. Zwischen Wiesbaden und St. Goar soll die Fahrrinne von garantierten 1,90 Metern auf durchgängig 2,10 Meter vertieft werden.
Wissing sieht deutlichen Bedarf
Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) sagt: «Das ist ein Riesenprojekt.» Die Fertigstellung dauere bis Anfang der 2030er Jahre. Die Kosten beliefen sich auf rund 180 Millionen Euro, davon etwa 40 Prozent für ökologische Begleitmaßnahmen. «Das ist das Projekt aus dem Bundesverkehrswegeplan mit dem höchsten Kosten-Nutzen-Verhältnis», betont Wissing. «Es gibt einen deutlichen Bedarf, mehr Verkehr von der Straße auf Schienen und Wasserstraßen zu verlagern.»
Der BDB befürchtet lange Verzögerungen beim ohnehin langfristigen Flussausbau: Der Regierungsentwurf für den Bundeshaushalt 2023 sehe eine Senkung des Wasserstraßenetats um rund 360 Millionen Euro vor. Das Bundesverkehrsministerium verweist auf auslaufende Sondereffekte wie etwa das Klimaschutzsofortprogramm mit zusätzlichem Geld auch für die Verkehrswege der Binnenschiffer. 2024 solle der Wasserstraßenetat wieder um rund 260 Millionen auf etwa 1,6 Milliarden Euro steigen.
Können neue Flachbodenschiffe eine Lösung für mehr Niedrigwasser sein? Der Chemieriese BASF will zunehmend auf sie setzen. Der BDB findet das gut, verweist aber auf die rund 2000 in Deutschland registrierten Güterschiffe: Dieser Weg sei sehr langwierig.
Die «Alorba» fährt weiter rheinaufwärts mit mal sieben, mal sechs und bei sehr starker Strömung auch nur mit vier Kilometern pro Stunde – Fußgängertempo. Insgesamt 370 Liter Diesel brauchen die zwei 1500-PS-Motoren des Schubverbands pro Stunde, wie Girard sagt. In der hinteren Schiffswohnung legt er sich schlafen, um gegen 4.00 Uhr seinen Kollegen Hartog abzulösen – die «Alorba» fährt Tag und Nacht.