Nach harten Pandemiejahren wächst die Hoffnung auf eine Kehrtwende bei den Reallöhnen. Sie sind im zweiten Quartal dieses Jahres um 0,1 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum gestiegen, wie das Statistische Bundesamt berichtete. Neben der etwas nachlassenden Inflation waren es vor allem die vergleichsweise hohen Tarifabschlüsse, die zu einem sehr starken Anwachsen der Nominallöhne führten. Sie übertrafen mit einem Plus von 6,6 Prozent die Steigerungen bei den Verbraucherpreisen (6,5 Prozent).
Das hatte es zuletzt im zweiten Quartal 2021 gegeben. In der Jahressicht sind die Reallöhne bereits seit 2020 rückläufig, als der Corona-Schock zu massenhafter Kurzarbeit führte. In den vergangenen zwei Jahren war dann der starke Anstieg der Verbraucherpreise der wichtigste Grund für den Reallohn-Schwund. Die Veränderung des Reallohns wird berechnet, indem man vom durchschnittlichen Zuwachs des nominalen Bruttolohns den Anstieg der Verbraucherpreise abzieht.
Nachdem die Verbraucher im Zeichen der energiepreisgetriebenen Inflation ihr Geld zusammengehalten haben, könnte nun wieder der private Konsum die wirtschaftliche Entwicklung stützen, erwartet die Chef-Volkswirtin der staatlichen KfW-Bankengruppe, Fritzi Köhler-Geib. Sie rechnet zum Jahresende mit einer deutlicheren Erhöhung der Reallöhne. «Getrieben durch die hohen Preissteigerungen und den Fachkräftemangel erhalten Arbeitnehmende im laufenden Jahr die höchsten nominalen Verdienststeigerungen seit 30 Jahren», analysierte die Ökonomin.
Mehr Kaufkraft dank Inflationsausgleichsprämie
Der nominale Lohnanstieg um 6,6 Prozent von April bis Juni war der Statistik-Behörde zufolge der stärkste seit Beginn der Zeitreihe im Jahr 2008. Neben den Tarifabschlüssen trugen dazu auch der zum Oktober 2022 erhöhte Mindestlohn und die höhere Minijobgrenze von 520 Euro bei. Mehr Kaufkraft brachte zudem die in vielen Betrieben vereinbarte Inflationsausgleichsprämie. Diese Einmalzahlung kann bis zu einem Betrag von 3000 Euro steuer- und abgabenfrei gestellt werden und steht nicht dauerhaft in den Lohntabellen. Das wiederum dämpft auch die sogenannten Zweitrundeneffekte, wenn sich Löhne und Preise wechselseitig hochschaukeln und so die Inflation verfestigen würden.
Geringfügig Beschäftigte wiesen mit 9,7 Prozent die höchsten Lohnsteigerungen auf. Bei den Branchen legten die Nominallöhne dort besonders zu, wo während der Corona-Krise große Einbrüche registriert worden waren: Gastronomie (+12,6 Prozent), Verkehr und Lagerei (+10,0 Prozent) sowie der Bereich Kunst, Unterhaltung und Erholung (11,9 Prozent).
Laut einer Analyse der OECD sind während der Corona-Pandemie die Nominallöhne in fast allen entwickelten Volkswirtschaften gesunken. Gleichzeitig habe sich die Beschäftigung inzwischen erholt und zur niedrigsten Arbeitslosigkeit seit den frühen 1970er-Jahren geführt. Da es wenige Anzeichen für eine Preis-Lohn-Spirale gibt, rät die OECD zu staatlich kontrollierten Mindestlöhnen und Tarifverhandlungen, um die Kaufkraftverluste der Beschäftigten abzufedern.
Werden vorangegangene Reallohnverluste wieder wettgemacht?
Ob im Gesamtjahr 2023 in Deutschland die Reallöhne höher ausfallen als im Vorjahr, ist für den Leiter Arbeitsmarktanalyse am Kieler Institut für Weltwirtschaft, Dominik Groll, noch nicht ausgemacht. Er sieht aber eine Trendwende: «Spätestens im kommenden Jahr werden die Nominallöhne dann aller Voraussicht nach aber deutlich stärker steigen als die Verbraucherpreise. Mit etwas Glück könnten die Reallohnverluste, die sich zwischen 2020 und 2022 aufsummiert haben, dann sogar wettgemacht sein.»
Die Lücke ist allerdings gewaltig, wie die gewerkschaftliche Hans-Böckler-Stiftung mahnt. «Die Reallöhne sind noch weit davon entfernt, den herben inflationsbedingten Einbruch vom Vorjahr wieder aufzuholen», sagt Tarif- und Einkommensexperte Malte Lübker. Im Vergleich zum zweiten Quartal 2019, also der Zeit vor der Corona-Pandemie, seien die Reallöhne um 5,6 Prozent gefallen.
Wenn die Reallöhne im Jahr 2024 wie erwartet spürbar steigen, gebe das auch für die Konjunktur Anlass zu vorsichtigem Optimismus, sagte KfW-Ökonomin Köhler-Geib. Die deutsche Wirtschaftsleistung (BIP) dürfte nach einem Rückgang um 0,4 Prozent im laufenden Jahr wieder wachsen – «wenn auch mit 0,8 Prozent nur mäßig.»