Grüne, Gewerkschaften und Sozialverbände pochen auf Reformen für einen höheren Mindestlohn in Deutschland. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger verteidigte die beschlossene Erhöhung um zwei Mal 41 Cent – und warnte vor einem neuen Wahlkampf um den Mindestlohn. «Populismus mit der Lohntüte führt nur zu einer noch höheren Inflation», sagte Dulger der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Für seine Äußerung wurde Dulger massiv kritisiert.
Verdi-Chef Frank Werneke hielt Dulgers Arbeitgebervereinigung vor, ihr seien «die Lebensbedingungen der Menschen, die nur nach dem gesetzlichen Mindestlohn bezahlt werden, offensichtlich gleichgültig». Die Vorsitzende des Sozialverbands SoVD, Michaela Engelmeier, warf Dulger «mangelndes Bewusstsein über die Lebensrealität vieler Menschen in Deutschland» vor. «Denn viele wissen trotz Vollzeitbeschäftigung nicht mehr, wie sie über die Runden kommen sollen.»
Zweifel an Armutsfestigkeit
Der Grünen-Sozialpolitiker Frank Bsirske erinnerte an die Anfänge des Mindestlohns: «Das Kernmotiv war es, dass Arbeit nicht arm machen darf.» Mit der beschlossenen Erhöhung von 12 auf 12,41 Euro im nächsten Jahr und auf 12,82 Euro 2025 werde dieses Ziel verfehlt, sagte der frühere Verdi-Chef der dpa. «Das bedeutet einen Rückfall vor 2015», sagte Bsirske. Damals wurde die Lohnuntergrenze mit einer Höhe von zunächst 8,50 Euro brutto pro Stunde eingeführt.
«Die bisher beschlossene Anhebung des Mindestlohns um 41 Cent ab dem kommenden Jahr ist ein Schlag ins Gesicht von Millionen Beschäftigten im Niedriglohnsektor», sagte die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, der dpa. Werneke sagte, gerade Beziehende des Mindestlohns litten unter den weiter stark steigenden Preisen – «insbesondere bei Lebensmitteln». Viele der Mindestlohnbezieher müssen laut Fahimi aufstockende Leistungen durch das Bürgergeld beantragen. «Das heißt, wir finanzieren über Steuergelder Löhne, die nicht vor Armut schützen.»
Umstrittener Beschluss
Die Mindestlohnkommission von Arbeitgebern und Arbeitnehmern hatte ihren umstrittenen Beschluss kurz vor der Sommerpause gefasst – erstmals war die Gewerkschaftsseite aber von der unabhängigen Kommissionsvorsitzenden überstimmt worden. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hatte dennoch angekündigt, die empfohlene Erhöhung per Verordnung umzusetzen.
«Die Arbeitgeber haben sich mit dem Durchdrücken ihrer Forderung in der Mindestlohnkommission keinen Gefallen getan, weil sie die Funktionsfähigkeit der Kommission in Frage gestellt haben», sagte DGB-Chefin Yasmin Fahimi der dpa.
Unterschiedliche Meinungen zu EU-Vorgaben
«Die EU-Mindestlohnrichtlinie sieht vor, dass sich die Mindestlöhne in jedem EU-Land an 60 Prozent des Medianlohns orientieren sollen», sagte Fahimi. Beim Median- oder mittleren Einkommen gibt es genauso viele Menschen mit einem höheren wie mit einem niedrigeren Einkommen. Nach Fahimis Rechnung wären das kommendes Jahr 14,12 Euro, auch wenn noch nicht feststeht, wie hoch das mittlere Einkommen 2024 liegt. Jedenfalls sei man von solchen Werten aber weit entfernt. «Und das ist ein Skandal», sagte Fahimi.
Allerdings gehen die Meinungen darüber auseinandern, wie weit die EU-Richtlinie reicht. «Um die dort genannten Referenzwerte zu erreichen, müsste der Mindestlohn bereits heute bei 13,16 Euro (50 Prozent des Durchschnittslohns) bzw. 13,53 Euro (60 Prozent des Medianlohns) liegen», hatte das Forschungsinstitut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung bereits im März festgestellt.
Die Arbeitgeber betonen die Spielräume der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der EU-Vorgaben. «Die EU-Mindestlohnrichtlinie verändert die gesetzlichen Vorgaben für die Arbeit der Mindestlohnkommission nicht», sagte Arbeitgeberpräsident Dulger. «Ich bitte darum, die Arbeit der Kommission zu respektieren», so Dulger. «Der Beschluss wurde juristisch genauso gefällt, wie es das Gesetz vorsieht.»
Rufe nach dem Gesetzgeber
Um zu einer deutlichen Erhöhung der Lohnuntergrenze zu kommen, verlangt VdK-Chef Bentele ein Einschreiten der Regierung, «so wie sie es im vergangenen Jahr mit der Erhöhung des Mindestlohns per Gesetz auf 12 Euro gemacht hat». SoVD-Chefin Engelmeier sagte: «14,13 Euro pro Stunde sind rechnerisch das absolute Minimum. Die Bundesregierung muss jetzt handeln.» Bereits SPD-Chef Lars Klingbeil hatte bereits eine stärkere Erhöhung als bisher geplant in Aussicht gestellt – und zwar unter Berufung auf die EU-Vorgaben auf 13,50 bis 14 Euro.
Bsirske und Fahimi dringen sogar auf grundlegendere Änderungen. Die Gewerkschafterin will geänderte Regeln für die Mindestlohnkommission. «Es muss gesetzlich fixiert werden, dass der Mindestlohn auf 60 Prozent des Medianlohns definiert wird», sagte der Grünen-Abgeordnete. Eine einmalige Erhöhung per Gesetz, wie von Bentele gefordert, würde aus Bsirskes Sicht magere Erhöhungsschritte in Zukunft nicht verhindern.
Fahimi verlangte eine Reform der Mindestlohnkommission. «Es kann nicht sein, dass im Zweifelsfall eine der beiden Bänke überstimmt wird», sagte sie. «Die Rolle des Vorsitzes muss dringend neutralisiert werden.» Komme eine gemeinsame Verständigung von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite nicht zustande, «bedarf es eines echten Schlichtungsverfahrens».
Dulger entgegnete solchen Forderungen: «Der Mindestlohn darf vor der nächsten Bundestagswahl nicht wieder zum Spielball der Politik werden.» Im Übrigen bitte er, die Tarifautonomie zu beachten. «Diese wird Arbeitgebern und Arbeitnehmern durch die Verfassung garantiert.»