Gedränge auf der Jobmesse in Berlin-Charlottenburg: Tausende Geflüchtete und Migranten sind an diesem Mittwoch gekommen, um eine Arbeit zu finden oder sich zu informieren. Dicht beieinander werben im Ludwig-Erhard-Haus Branchen und Unternehmen an ihren Ständen um die potenziellen Arbeitskräfte. Der Discounter Lidl ist vertreten, die Deutsche Bahn und der Hauptstadtflughafen BER, auch viele Unternehmen aus dem Dienstleistungssektor: Gebäudereiniger und Sicherheitsfirmen.
Mit der zunehmenden Zahl an Geflüchteten in Deutschland rückt auch der Arbeitsmarkt wieder in den Fokus. Branchen mit hohem Fach- und Arbeitskräftemangel fordern seit Jahren mehr und leichtere Zuwanderung. Bei Asylbewerbern äußern sie sich deutlich zurückhaltender, obwohl viele Fachleute hier ein großes Potenzial sehen. Und so soll die Jobmesse, veranstaltet unter anderem von den Jobcentern der Hauptstadt und der Industrie- und Handelskammer, Geflüchtete mit Arbeitgebern in Kontakt bringen.
Die Unternehmen geben sich pragmatisch
Frauen sind ebenso zahlreich vertreten wie Männer, Deutsch sprechen die Interessenten mal mehr, mal weniger, mal gar nicht. «Die Lust am Arbeiten und die Motivation müssen da sein», sagt Sven Henschler, Abteilungsleiter Personal beim Feinkostanbieter Lindner. Dann könne schon mal über fehlende Deutschkenntnisse hinweggesehen werden. Sprachbarrieren würden in den eigenen Küchen über Bilder und Illustrationen für Hilfsarbeiten abgebaut, sagt Henschler. Pragmatisch und anpackend geben sich auch die anderen Unternehmen auf der Messe.
Die Zahl geflüchteter Menschen in Deutschland nimmt wieder deutlich zu. Von Januar bis August dieses Jahres wurden dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zufolge fast 204 500 Asylanträge erstmals gestellt. Das waren fast so viele Erstanträge wie im gesamten vergangenen Jahr (rund 217 800) und deutlich mehr als im Gesamtjahr 2021 (rund 122 000).
Vom Niveau der Jahre 2015 und 2016 sind die Geflüchtetenzahlen aber noch weit entfernt. Die drei größten Gruppen bilden Menschen aus Syrien, Afghanistan und der Türkei. Ukrainer werden nicht erfasst. Sie benötigen keinen Aufenthaltstitel in Deutschland.
Integration in den Arbeitsmarkt
Viele Kommunen und auch große Städte wie Berlin stellen die vielen Neuankömmlinge derzeit vor große Probleme. Sie suchen händeringend zusätzliche Unterkünfte. Wohl auch deshalb dreht sich die Debatte vor allem darum, irreguläre Migration zu verhindern, Menschen gar nicht erst in die EU oder nach Deutschland kommen zu lassen.
Doch aus Sicht vieler Fachleute müsste es neben den humanitären Verpflichtungen, die der Rechtsstaat den Geflüchteten gegenüber hat, mehr um deren künftige Integration in den Arbeitsmarkt gehen. «Die meisten dieser Menschen werden, mit Ausnahme der Geflüchteten aus der Ukraine, für länger oder dauerhaft in Deutschland bleiben», sagt der Integrationsforscher der Humboldt-Universität Berlin, Herbert Brücker, der dpa.
Einer aktuellen IAB-Studie zufolge sind die Erwerbstätigenquoten der Geflüchteten unmittelbar nach der Ankunft gering, steigen in den Jahren danach aber zügig an. «So belaufen sich die Erwerbstätigenquoten im ersten Jahr nach dem Zuzug auf 7 Prozent, steigen sechs Jahre nach dem Zuzug auf 54 Prozent und auf 62 Prozent sieben Jahre nach dem Zuzug.» Das gilt demnach auch für diejenigen, die in den Jahren 2015 und 2016 nach Deutschland kamen.
«Das ist zwar weniger als in der deutschen Bevölkerung mit rund 75 Prozent, aber diese Arbeitskräfte tragen bereits erheblich zur gesamtwirtschaftlichen Produktion bei», sagt Integrationsforscher Brücker. Ausgeschöpft sei das Potenzial aber noch lange nicht. «Insbesondere bei den geflüchteten Frauen sind die Erwerbstätigenquoten noch niedrig.»
Nachholbedarf sehen die Gewerkschaften bei der Anerkennung vorhandener Qualifikationen.Die Verantwortung, das Potenzial voll auszuschöpfen, hätten auch die Unternehmen, sagt Berlins Arbeitssenatorin, Cansel Kiziltepe (SPD) auf der Jobmesse. In Berlin bilde lediglich etwas mehr jeder zehnte Betrieb selbst aus. Auf Bundesebene seien es doppelt so viele. Mehr unternehmerisches Engagement brauche es auch beim Thema Sprache, fordert die Senatorin. «Es ist auch eine Frage der Fachkräftesicherung, dass man während der Ausbildung oder während der Arbeit Sprachkurse anbietet.» Es gebe bei den Betrieben Bewegung, «aber sie müssen sich noch mehr bewegen. Die Politik kann alleine nicht alles lösen».
Abhilfe durch neues Gesetz?
Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz hat die Bundesregierung das Potenzial nicht gezielt angeworbener Fachkräfte in den Blick genommen – etwa mit der sogenannten Chancenkarte. Je nach Sprachkenntnissen, Berufserfahrung, Alter und Deutschland-Bezug können arbeitswillige Ausländer Punkte bekommen, die sie zu der Karte berechtigen. Sie dient für ein Jahr als Aufenthaltserlaubnis. Wer sie hat, kann in Deutschland auf Arbeitssuche gehen.
Zudem gibt es für Asylsuchende mit dem sogenannten Spurwechsel nun die Möglichkeit, aus dem Asylverfahren in die Erwerbsmigration zu wechseln. Er gilt für Menschen, die bis zum 29. März dieses Jahres einen Asylantrag gestellt haben. «Er ist also nur für Personen möglich, die von dieser Regelung noch nichts wussten, als sie nach Deutschland gekommen sind», sagte HU-Professor Brücker jüngst dem Mediendienst Integration. Die Gewerkschaft Verdi hält die Regelung hingegen für «unzureichend» und bezeichnet sie als «Spurwechsel light».