• Fr. Nov 22nd, 2024

Forscherin: Energiewende greift noch zu kurz

Wird die Energiefrage zur sozialen Frage? Die Unsicherheit vor dem Winter und die Teuerungswelle bei Gas, Strom und Sprit belasten immer mehr Menschen. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Jens Büttner/dpa)

Die Bau- und Energieexpertin Lamia Messari-Becker ruft wegen des anhaltenden Risikos russischer Gas-Ausfälle zu einem grundsätzlichen Umsteuern in der deutschen Energiepolitik auf. Man müsse die Versorgungssicherheit sowie den Umbau der Sektoren Strom, Wärme und Verkehr endlich als ein integriertes Projekt begreifen, anstatt die Bereiche wie bisher eher isoliert zu betrachten, sagte sie der Deutschen Presse-Agentur.

Die «ausschließliche Ausrichtung der Energiewende auf Strom» habe auch dazu geführt, dass Erdgas zu sehr aus dem Blick geraten sei. Darin zeige sich auch eine «technische Ignoranz», kritisierte die Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Uni Siegen. «Das ist für eine Industrienation und einen Sozialstaat wie die Bundesrepublik Deutschland inakzeptabel.»

Aus Sicht Messari-Beckers hat sich die Politik jahrelang mit dem an sich zentralen und notwendigen Thema Ökostrom befasst, dabei aber klimaschonendere Konzepte für eine Wärme- und eine Verkehrswende vernachlässigt. Nun sei man in der Situation, die noch zu geringe Strommenge aus erneuerbaren Energien neben der eigentlichen Elektrizitätsversorgung auch noch für den Gebäude- und Mobilitätssektor einsetzen zu müssen.

Erweiterung des Ökostromangebots gefordert

Es werde viel Energie für die Wärmeproduktion benötigt. Aber gleichzeitig gelte: «Die wiederholt anzutreffende Aussage, wir hätten ausschließlich ein Wärmeproblem und eben kein Stromproblem, ist unerträglich falsch.» Viele Menschen könnten bald notgedrungen mit Strom heizen – «mit dramatischen Folgen für den Stromverbrauch».

Die Erweiterung des Ökostromangebots müsse rasch vorangehen, betonte Messari-Becker – jedoch nicht nur durch Wind- und Solarkraft, sondern stärker auch durch Geothermie und Biomasse. Und in der jetzigen Lage knapper und teurer Energie dürfe ein vorübergehendes Hochfahren fossiler Quellen kein Tabu sein, sagte sie zur Reaktivierung einer Reserve von Kohlekraftwerken und Debatte um eine Laufzeitverlängerung noch bestehender Kernkraftwerke: «Ziel muss es sein, eine rationale Sicherung der Energieversorgung zu gewährleisten.»

Diese Energieversorgung sei «idealerweise klimaschützend». Unter den aktuellen Umständen werde das technisch aber nicht ausschließlich möglich sein. «Deutschland muss in der Krise alle Register ziehen», forderte die Bauingenieurin. «Dazu gehören wirklich alle Formen erneuerbarer Energien, gegebenenfalls eigene fossile Brennstoffe und Reserven, notfalls auch Atomkraft. Gerade in der Atomdebatte erwarte ich von der Bundesregierung Klarheit und die nötige Eile, um Planungssicherheit zu erreichen.» Jeder könne und solle privat Energie einsparen. Messari-Becker warnte aber davor, Vorgaben etwa zum Absenken der Raumtemperatur mit gesetzlichem Zwang durchzusetzen – die Folge könnten sonst «soziale Verwerfungen und Unruhen» sein.