Drohen in diesem Winter Stromausfälle wegen der Energiekrise? Eine repräsentative Umfrage des Civey-Instituts ergab jüngst, dass eine Mehrheit (53 Prozent) der Bürgerinnen und Bürger deswegen in großer Sorge ist. Bei den 18- bis 29-Jährigen waren es sogar 60 Prozent, wie das Nachrichtenportal «Watson» berichtete.
Doch wie wahrscheinlich sind Stromausfälle in Deutschland in diesem Winter tatsächlich? Ein Überblick.
Wie oft kommen Stromausfälle in Deutschland vor?
Der Bundesnetzagentur wurden 2020 bundesweit exakt 162.224 Stromausfälle in 868 Stromnetzen bekannt, etwa 2400 mehr als 2019. Bezogen auf den einzelnen Kunden bedeutete das im Schnitt 10,73 Minuten lang keinen Strom, wohlgemerkt im ganzen Jahr. Dies war die bisher geringste Ausfallzeit seit der ersten Erhebung durch die Behörde 2006.
Der Mittelwert der Jahre 2010 bis 2020 liegt bei 14,05 Minuten. Die Bundesnetzagentur sprach bei der Veröffentlichung der Zahlen von einem «konstant hohen Niveau» der «Versorgungszuverlässigkeit».
Besteht in diesem Jahr eine größere Stromausfall-Gefahr als sonst?
Der Strommarktexperte Christian Rehtanz geht nicht von einer größeren Stromausfall-Gefahr aus. «Das Stromsystem wird in der Spitze durch Gaskraftwerke abgesichert, um die benötigte Leistung zu decken», sagt der Professor für Energiesysteme und Energiewirtschaft an der Technischen Universität Dortmund. Daher seien Gas- und Stromsektor gekoppelt.
«Aufgrund der immensen Wichtigkeit des Stromsektors wird man alles tun, um dieses lauffähig zu halten.» Er geht davon aus, dass sogar im Fall einer Gasknappheit Gas vorrangig zur Stromerzeugung eingesetzt wird und eher Industriekunden nicht mehr mit Gas versorgt werden.
Muss also kein Blackout befürchtet werden?
Auch Strommarktexperte Fabian Huneke vom Beratungsunternehmen Energy Brainpool befürchtet in diesem Winter in Deutschland keinen Blackout, also einen unkontrollierten Zusammenbruch der Elektrizitätsversorgung. «Möglich ist allenfalls ein sogenannter Brownout, bei dem die Übertragungsnetzbetreiber einzelne Großverbraucher oder Regionen stundenweise vom Netz nehmen müssten», sagt Huneke. Dies könne bei großer Kälte etwa am frühen Abend geschehen, wenn der Haushaltsstromverbrauch stark zunehme.
Die Haushalte in Frankreich spielten dabei eine wichtige Rolle: «Gerade in Frankreich wird viel mit Strom geheizt.» Wenn dann dort nicht genügend Atomstrom vorhanden sei, könne die Lastunterdeckung in die europäischen Nachbarmärkte herüberschwappen und auch hierzulande für Probleme sorgen, weil dann vergleichsweise viel Strom nach Frankreich fließe. Möglich ist dies durch die Koppelung der europäischen Stromnetze, die nicht nur grenzüberschreitenden Stromhandel ermöglicht, sondern in Notsituationen auch für mehr Netzstabilität sorgen kann.
Was ist zurzeit mit den französischen Atomkraftwerken los?
Laut Huneke ist derzeit knapp die Hälfte der 56 Atomkraftwerke Frankreichs nicht am Netz. Grund sind Instandsetzungsarbeiten sowie das Auftreten von Rissen in Notkühlkreisläufen.
Frankreichs Energiewende-Ministerin Agnès Pannier-Runacher hatte Anfang September gesagt, dass der Stromkonzern EDF sich verpflichtet habe, alle Atomkraftwerke für diesen Winter wieder in Betrieb zu nehmen. Huneke: «Ein großer Teil der französischen Anlagen ist recht alt. Deshalb sind sie störanfälliger als die deutschen, die deutlich jünger sind.»
Wer kümmert sich eigentlich darum, dass immer genug Strom da ist?
Auf der einen Seite sind das die Stromproduzenten, die ihren Strom verkaufen wollen – angefangen bei Privathaushalten mit Solardach bis hin zu großen Stromerzeugern wie RWE oder Leag. Um den Stromtransport zu den Verbrauchern kümmern sich auf der anderen Seite die Netzbetreiber, allen voran vier große Unternehmen, die das sogenannte Übertragungsnetz unterhalten.
Die Firmen 50Hertz, Amprion, TenneT und TransnetBW sind für die Überlandleitungen zuständig, durch die der Strom mit Höchstspannung fließt – 150.000 Volt oder mehr. Die Unternehmen sind gesetzlich verpflichtet, ein «sicheres, zuverlässiges und leistungsfähiges Energieversorgungsnetz» zu betreiben.
Wie blicken die vier Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) auf den Winter?
Das wollte das Wirtschaftsministerium im Sommer auch gerne wissen. Und zwar gleich aus mehreren Gründen: Wegen des Niedrigwassers in vielen wichtigen Wasserstraßen, wegen des Ausfalls vieler französischer Atomkraftwerke und der seit dem russischen Angriff auf die Ukraine insgesamt angespannten Lage auf den Energiemärkten.
Für den sogenannten Stresstest spielten die ÜNB drei Szenarien mit unterschiedlich schwierigen Bedingungen durch. Es ging dabei zum Beispiel um Annahmen zum Pegelstand der Flüsse, über die Kohlekraftwerke mit Brennstoff beliefert werden. Auch verschiedene Annahmen zur Verfügbarkeit der französischen Atomkraftwerke, zum Einsatz von Heizlüftern und zur Gasverfügbarkeit in Süddeutschland wurden gemacht.
Dabei ging es um zwei Kernfragen: Steht auch unter schwierigen Bedingungen so viel Strom zur Verfügung wie benötigt wird, und zwar in Deutschland und in europäischen Nachbarländern? Und bleibt das Stromnetz unter diesen Bedingungen stabil?
Und was haben sie herausgefunden?
Die Netzbetreiber bewerten die Versorgungssituation im kommenden Winterhalbjahr unter den schwierigen Bedingungen aller drei Szenarien als «äußerst angespannt». In den beiden kritischeren Szenarien träten in einigen Stunden mehrstündige «Lastunterdeckungen» auch in Deutschland auf. Das bedeutet: Die Stromnachfrage wäre dann höher als das Angebot – nicht alle könnten mit Strom versorgt werden. Im schwierigsten Szenario könnte das in Deutschland der Untersuchung zufolge im gesamten Winter für 3 bis 12 Stunden Unterdeckung bedeuten.
Die Netzbetreiber haben auch die Transportsicherheit im Stromnetz untersucht, die sogenannte Netzsicherheit. Ergebnis: In keinem der drei Szenarien steht in Deutschland genug Kraftwerksleistung zur Verfügung, um Netzengpässe zu vermeiden. Es würden im Ausland mindestens 5,8 Gigawatt gesichertes Ausgleichspotenzial benötigt. Das entspricht etwa der Leistung von vier großen Kernkraftwerken.
Was empfehlen die ÜNB als Gegenmaßnahmen?
«Dringend empfohlen» wird die «Nutzung aller Möglichkeiten zur Erhöhung der Strom-Erzeugungs- und Transportkapazitäten». Sie sprechen sich unter anderem dafür aus, die Nutzung weiterer Kraftwerkskapazitäten abzusichern etwa durch eine Marktrückkehr von Kohlekraftwerken aus der Reserve oder durch die Sicherung der Gasversorgung von Gaskraftwerken. Die Verfügbarkeit der drei noch laufenden Kernkraftwerke bezeichnen sie in diesem Zusammenhang als einen weiteren «Baustein zur Beherrschung kritischer Situationen».
Skizziert wird auch, was passieren würde, wenn alle empfohlenen Maßnahmen doch nicht ausreichen: Dann müssten «Exporte beschränkt oder Großverbraucher kontrolliert und temporär abgeschaltet werden, um die Netzsicherheit aufrechtzuerhalten».
Wie hat die Politik auf die Ergebnisse des Stresstests reagiert?
Das Wirtschaftsministerium teilte bei der Vorstellung des Stresstests am 5. September mit: «Eine stundenweise krisenhafte Situation im Stromsystem im Winter 22/23 ist zwar sehr unwahrscheinlich, kann aktuell aber nicht vollständig ausgeschlossen werden.» Damit es aber zu keinen Stromausfällen komme, seien zusätzliche Maßnahmen zur Stärkung der Netzsicherheit nötig. Etliche Maßnahmen, die der Stresstest als notwendig erachte, seien in der Umsetzung, wie beispielsweise die Marktrückkehr der Kohlekraftwerke, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne).
Und was ist mit den Atomkraftwerken?
Das Wirtschaftsministerium will, dass zwei der drei verbliebenen Atomkraftwerke eine sogenannte «Einsatzreserve» für Notfälle bilden sollen. Wenn es nötig ist, sollen die Kraftwerke Isar 2 in Bayern und Neckarwestheim in Baden-Württemberg im Winter einen zusätzlichen Beitrag im Stromnetz leisten: Entweder sollen sie weitgehend durchlaufen, wenn sich schon früh Engpässe abzeichnen, oder nach dem bislang zum Jahresende geplanten Stopp dann wieder angefahren werden. Neue Brennstäbe sollen dafür nicht verwendet werden.
Bis Mitte April sollen die beiden Kraftwerke zur Verfügung stehen. Danach soll auch für sie endgültig Schluss sein. «Atomkraft ist und bleibt eine Hochrisikotechnologie», begründet Habeck das Festhalten am Atomausstieg.
Das AKW Emsland in Niedersachsen soll nicht Teil der Reserve sein, sondern wie geplant zum Jahresende endgültig abgeschaltet werden. Für den süddeutschen Raum gebe es weniger AKW-Alternativen als im Norden, argumentiert Habeck. Zur Deckung möglicher Lücken in Norddeutschland sollen im Notfall schwimmende Ölkraftwerks-Schiffe zum Einsatz kommen.
Steht schon fest, wie es jetzt mit den Atomkraftwerken weitergeht?
Nein, die Bundesregierung hat noch nicht endgültig über Habecks Vorschlag entschieden. Während sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hinter den Vorschlag stellte, ist die FDP für einen Weiterbetrieb der AKW.
«Es ist unabdingbar, die Kapazitäten am Strommarkt zu erhöhen und so die galoppierenden Preise zu senken. Die drei sicheren Kernkraftwerke müssen weiterlaufen», sagte etwa Finanzminister Christian Lindner (FDP) der «Neuen Osnabrücker Zeitung». Auch die Oppositionsparteien CDU und CSU wollen einen Weiterbetrieb aller drei Atomkraftwerke.