Vor der Küste der Orkney-Inseln soll in Kürze ein ehrgeiziges europäisches Modellprojekt zur Gewinnung sauberen Stroms aus Meereskraft in Betrieb gehen.
Angetrieben wird das schwimmende schottische Gezeitenkraftwerk von zwei in Franken entwickelten hergestellten Tidenturbinen des Lagerherstellers SKF, der sich damit ein neues Geschäft erschließen will. «Wir glauben, dass wir in drei bis fünf Jahren in die kommerzielle Phase der Serienproduktion kommen können», sagte SKF-Deutschlandchef Martin Johannsmann der dpa in Schweinfurt. «Momentan sind wir noch im Prototypenstadium.»
Herkömmliche Gezeitenkraftwerke funktionieren ähnlich wie Wasserkraftwerke an Binnengewässern – die Strömung treibt in einer Staumauer installierte Turbinen an. Die riesigen Mauern beeinträchtigen jedoch sowohl Tier- und Pflanzenwelt als auch das Landschaftsbild. Das neuartige Gezeitenkraftwerk «Orbital O2» des schottischen Startups Orbital Marine Power sieht anders aus und soll insbesondere verträglich für die Fischwelt sein.
Unter einem 72 Meter langen, zigarrenförmigen Schwimmkörper sind die SKF-Turbinen mit einer Leistung von zwei Megawatt in etwa 15 Meter Tiefe an zwei langen Armen befestigt. «Die EU-Kommission will 2025 100 Megawatt Strom mit Tidenturbinen erzeugen, 2030 ein Gigawatt», sagte Johannsmann. «Da werden dann schon hunderte solcher Anlagen interessant.» Die Anlage ist mit Ketten am Meeresboden verankert, der Strom wird über ein Kabel an Land eingespeist.
Die deutsche SKF ist eine Tochter des gleichnamigen schwedischen Kugellagerkonzerns, der weltweit etwa 44 000 Mitarbeiter beschäftigt. Der Manager erläutert das Interesse von SKF an der Technologie: «Wie mache ich aus Strömung Strom? Ich brauche etwas Drehendes, und überall, wo sich etwas dreht, brauchen Sie ein Lager.»
Dass das Gezeitenkraftwerk vor den Orkney-Inseln installiert wird, hat einen natürlichen Grund: Dort ist der Tidenhub besonders groß, und damit die Strömung besonders stark. «Der Grund, dass es so etwas bisher nicht gibt, ist die sehr lebensfeindliche Umgebung», sagt Johannsmann.
«Bisher war die Menschheit noch nicht in der Lage, etwas zu bauen, was diesen Kräften nicht nur widersteht, sondern auch Energie daraus gewinnt.» Die Turbinen müssen nach Worten des SKF-Chefs «megarobust sein, gegen Salzwasser, gegen Sturm et cetera, aber das Schlimmste ist die Strömung».
Die EU-Kommission hat im November ihre Strategie für den Ausbau der Offshore-Energie vorgelegt, neben den neuen Gezeitenkraftwerken werden schwimmende Solarkraftwerke, schwimmende Windanlagen und Wellenkraftwerke getestet. «Meeresenergietechnologien könnten bis 2030 einen wesentlichen Beitrag zum Energiesystem und zur Industrie Europas leisten», heißt es in dem Dokument.
«Wir sind beim Thema Tidenturbinen jetzt in etwa so weit wie bei der Windkraft vor 35 Jahren, als es die ersten öffentlich geförderten Prototypen wie die Modellanlage Growian gab», sagt Johannsmann dazu. Die Lebensdauer der Tidenturbinen sei auf 20, 30 Jahre ausgelegt. «Man muss einfache Wartungen vor Ort machen können. Für größere Wartungen können Sie die Zigarre von den Ankerketten trennen und an Land schleppen, dafür braucht man kein Spezialschiff. Deswegen sind die Wartungskosten relativ günstig.»
Als potenzielle Standorte für Tidenturbinen in Frage kommen Küsten mit ausgeprägtem Tidenhub. «In Europa gut geeignet sind vor allem Schottland und alles rund um die britischen Inseln, aber auch die französische Atlantikküste», sagt Johannsmann. «Das nördliche Seegebiet zwischen China und Korea wären auch sehr gut geeignet, ebenso die Ostküste der USA und Kanadas. Es sind wahrscheinlich ein Dutzend Regionen rund um die Welt.»