Die Finanzminister der EU-Staaten unternehmen an diesem Donnerstag einen neuen Versuch, ihren Streit über eine Reform der europäischen Schuldenregeln beizulegen. Dazu kommen sie am Abend (19.00 Uhr) in Brüssel zu einem Arbeitsessen zusammen. Im Anschluss daran oder bei einem formellen Treffen am Freitag könnte dann im Idealfall eine politische Grundsatzeinigung verkündet werden.
Grundlage der Verhandlungen der EU-Staaten ist ein Vorschlag der Europäischen Kommission von April, der statt einheitlicher Vorgaben beim Schuldenabbau individuelle Wege für jedes Land vorsieht. So sollen große öffentliche Investitionen möglich sein, die für die Bekämpfung des Klimawandels, den Übergang zu nachhaltiger Energie und die Modernisierung der Volkswirtschaften erforderlich sind.
In den Hauptstädten sind die Vorschläge umstritten. So waren etwa die EU-Wirtschaftsschwergewichte Deutschland und Frankreich mit sehr unterschiedlichen Positionen in die Verhandlungen gegangen. Berlin pochte etwa auf einheitliche Vorgaben für den Schulden- und Defizitabbau für hoch verschuldete Länder – eine Forderung, die Paris lange Zeit ablehnte. Zuletzt kamen sich die Nachbarländer aber näher. Ob es nun auf eine Einigung aller Länder hinausläuft, ist nach Angaben von Diplomaten offen. So will etwa Italien keine strengen, einheitlichen Regeln akzeptieren.
Regeln derzeit außer Kraft
Die derzeitigen Regeln schreiben vor, Schulden bei maximal 60 Prozent der Wirtschaftsleistung zu begrenzen und Haushaltsdefizite unter drei Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts zu halten. Wegen der Corona-Krise sowie der Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine sind sie vorübergehend bis 2024 ausgesetzt. Bislang müssen Staaten normalerweise fünf Prozent der Schulden, die über der 60-Prozent-Marke liegen, im Jahr zurückzahlen.
Eine Rückkehr zu den alten Regeln wird als Gefahr für die wirtschaftliche Erholung Europas gesehen. Zudem wurde das Regelwerk auch schon vor der Pandemie oft missachtet – auch von Deutschland.
Auswirkungen des deutschen Haushaltsstreits
Trotz der laufenden Haushaltsverhandlungen in Deutschland wird Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) zu dem Abendessen erwartet. Bis zuletzt war unklar, ob sich das Ringen um den deutschen Etat für 2024 auf die Verhandlungen in Brüssel auswirkt.
Der Direktor des Brüsseler Thinktanks Bruegel, Jeromin Zettelmeyer, sieht mit Blick auf die deutsche Verhandlungsposition zwei Optionen. Wenn Deutschland sich dazu entschließe, keine neuen Schulden aufzunehmen, könne Lindner auch in Brüssel hart bleiben. Zettelmeyer sagte, Lindner könne dann in etwa so argumentieren: «Wir haben uns sehr angestrengt, dann könnt ihr das ja auch.» Wenn die Bundesregierung allerdings in den nächsten Jahren zusätzliche Schulden aufnehme, könne Deutschland seiner Ansicht nach selbst an die Grenze der europäischen Vorschriften stoßen. «Insofern könnte es sein, dass sie dann auch in Brüssel mehr Flexibilität zustimmen, zum Beispiel im Hinblick auf schuldenfinanzierte Klimainvestitionen», sagte der Experte.
Kritik an Lindner
Sebastian Mang von der Brüsseler New Economics Foundation warnte Deutschland vor einem weiteren Pochen auf strenge und einheitliche Schuldenregeln. Das Verfassungsgerichtsurteil offenbare den Konflikt zwischen den derzeitigen Schuldenvorschriften und den Bemühungen um mehr Investitionen in den Klimaschutz. «Christian Lindner setzt sich jedoch weiterhin für ähnlich unsinnige, nicht umsetzbare Fiskalregeln auf EU-Ebene ein. Immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten, ist unsinnig und eine Verschwendung wertvoller Zeit, während sich die Klimakrise weiter verschärft», sagte Mang. Grüne öffentliche Investitionen könnten Gesellschaft und Wirtschaft stärken und dazu beitragen, die langfristige Tragfähigkeit der Schulden zu gewährleisten.
Das Bundesverfassungsgericht hatte eine Umschichtung im deutschen Haushalt für nichtig erklärt. Dadurch fehlen nicht nur 60 Milliarden Euro, die über vier Jahre für Klimaschutz-Vorhaben und die Modernisierung der Wirtschaft eingeplant waren. Im Haushalt für das kommende Jahr klafft nun ein Loch von 17 Milliarden Euro. Die Ampel-Koalition in Berlin ringt seit Wochen um eine Lösung im Haushaltsstreit.