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Europas Währungshüter werden flexibler beim Thema Inflation

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Jul 8, 2021
Das Licht der untergehenden Sonne spiegelt sich in der Glasfassade der Europäischen Zentralbank (EZB). (Urheber/Quelle/Verbreiter: Boris Roessler/dpa)

Europas Währungshüter verschaffen sich beim Thema Inflation mehr Spielraum und zementieren damit nach Ansicht von Volkswirten das Zinstief im Euroraum.

Die Europäische Zentralbank (EZB) strebt künftig für den Währungsraum der 19 Staaten eine jährliche Teuerungsrate von zwei Prozent an, wie die Notenbank am Donnerstag mitteilte.

Das ist zwar etwas höher als die bisher veranschlagten «unter, aber nahe zwei Prozent». Zugleich jedoch wird die EZB bei ihrem Bestreben, mittelfristig Preisstabilität sicherzustellen, künftig zumindest zeitweise «moderat über dem Zielwert» liegende Inflationsraten akzeptieren.

Mit einem solchen «symmetrischen» Inflationsziel ist die Notenbank nicht mehr unmittelbar zum Reagieren gezwungen, sollten die Inflationsraten zeitweilig nach oben oder nach unten von dem prozentualen Ziel abweichen.

«Die Europäische Zentralbank verschafft sich mit ihrem neuen Inflationsziel von zwei Prozent mehr Freiraum, um auch bei steigenden Preisen an ihrer extrem expansiven Geldpolitik festhalten zu können», kommentierte Christian Ossig, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes deutscher Banken (BdB). «Das heißt, Wirtschaft und Sparer im Euroraum werden sich auf absehbare Zeit leider auch weiterhin auf Negativzinsen einstellen müssen.»

Das veränderte Inflationsziel ist das Kernergebnis der internen Überprüfung der geldpolitischen Strategie, welche die seit 1. November 2019 amtierende EZB-Präsidentin Christine Lagarde angestoßen hatte. Eingeflossen sind darin auch Beratungen mit Verbraucherverbänden und Sozialpartnern sowie Bürgerstimmen.

Das neue Inflationsziel bedeute keine Verzögerung einer Straffung der Geldpolitik, versicherte Lagarde bei der Vorstellung der Ergebnisse von 18 Monaten Strategiedebatte in Frankfurt. «Wir sind dem Ziel von zwei Prozent verpflichtet.» Jede dauerhafte signifikante Abweichung von dem Inflationsziel werde die Notenbank nicht tolerieren. Schon bei der nächsten regulären Sitzung des EZB-Rates am 22. Juli will die Notenbank die neue Strategie zugrunde legen.

Lagarde selbst schrieb sich in dem Prozess zudem den Klimaschutz auf die Fahnen. Nun beschloss der EZB-Rat «einen umfassenden Aktionsplan mit einem ehrgeizigen Fahrplan zur weiteren Einbeziehung von Klimaschutzüberlegungen in seinen geldpolitischen Handlungsrahmen».

Beim Kauf von Unternehmensanleihen habe die EZB bereits begonnen, «relevante Risiken des Klimawandels» zu berücksichtigen. Ob Notenbanken umweltpolitische Ziele unterstützen sollten, ist umstritten. Greenpeace forderte erneut, die EZB solle «klimaschädliche Unternehmen» bei ihren milliardenschweren Anleihenkäufen «ab heute nicht weiter begünstigen».

Hauptziel der Notenbank ist und bleibt ein ausgewogenes Preisniveau – im Jargon der Währungshüter: Preisstabilität. «Wir haben nur eine Nadel im Kompass. Wir müssen Preisstabilität garantieren», hatte der frühere EZB-Präsident Jean-Claude Trichet immer wieder betont.

Ist die Inflation zu hoch, verlieren Verbraucher an Kaufkraft und die Währung hat weniger Rückhalt. Stagnieren Preise andererseits oder fallen auf breiter Front, kann das Verbraucher und Unternehmen verleiten, Investitionen aufzuschieben. Denn es könnte ja bald noch günstiger werden. Dieses Abwarten kann die Konjunktur ausbremsen.

Daher sehen Europas Währungshüter Preisstabilität am ehesten gewährleistet, wenn die Preise im Euroraum moderat steigen. Daher wurde ein Inflationsziel mit Abstand zur Nullmarke gewählt. Bei Gründung der EZB im Juni 1998 definierten die Euro-Notenbanken Preisstabilität bei einer jährlichen Teuerungsrate von «unter zwei Prozent». Im Jahr 2003 präzisierte der EZB-Rat, mittelfristig werde eine Inflation von «unter, aber nahe zwei Prozent» angestrebt.

Nun also zwei Prozent. Damit reiht sich die EZB ein in den Chor weltweit führender Zentralbanken. Auch die US-Notenbank Fed hatte signalisiert, dass sie es tolerieren würde, wenn die Inflationsraten zeitweise über dieser Zielmarke liegen.

Im Euroraum lag die Teuerungsrate seit 2013 oft deutlich unter der Zwei-Prozent-Marke. Und das, obwohl die EZB seit Jahren und bis heute gewaltige Summen billiges Geld in die Märkte pumpt und die Zinsen auf Rekordtief hält – beides in der ökonomischen Theorie probate Mittel, um für mehr Inflation zu sorgen. Dennoch dümpelte die Teuerung im Euroraum lange weiter vor sich hin.

Kritiker werfen der EZB daher schon lange vor, sich mit ihrem starren Inflationsziel in eine Sackgasse manövriert zu haben und forderten mehr Flexibilität. Für Sparer jedoch hat dies auch eine Kehrseite: Je mehr Spielraum sich die EZB gibt, umso länger könnte die Notenbank an Null- und Negativzins festhalten.

Das neue Ziel bereite «höheren Inflationsraten den Weg», meint ZEW-Forscher Friedrich Heinemann. «Weil eine Inflation unter zwei Prozent jetzt als genauso schlecht wie eine Inflation über zwei Prozent gilt, wird es der EZB-Rat noch leichter haben, in den kommenden Jahren eine Fortdauer der extrem lockeren Geldpolitik und der Anleihekäufe zu rechtfertigen.» Der «Wirtschaftsweise» Volker Wieland bezeichnete es als gut, dass das Inflationsziel «nicht massiv angehoben wurde auf drei oder vier Prozent wie das manche vorgeschlagen haben. Das wäre meines Erachtens ein Fehler gewesen.»

Ihren Kritikern entgegen kommen die Währungshüter bei der Frage, ob die Kosten für selbst genutztes Wohneigentum in die Berechnung der Inflationsrate einbezogen werden sollen. Vor allem in Deutschland ist die Vorstellung verbreitet, die amtliche Inflationsrate für den Euroraums sei allein durch die Art ihrer Messung nach unten verzerrt. Die EZB empfiehlt nun, künftig auch die Kosten für selbst genutztes Wohneigentum «schrittweise» mit zu berücksichtigen.

Zugleich bitten die Währungshüter beim Thema Wohnkosten um Geduld: Es werde «noch mehrere Jahre dauern», bis diese Daten in den harmonisierten Verbraucherpreisindex HVPI einfließen werden, den die EZB für ihre Geldpolitik heranzieht. Zum nächsten Mal auf den Prüfstand soll die geldpolitische Strategie im Jahr 2025.

Von Jörn Bender, dpa und Bernhard Funck/Jürgen Sabel, dpa-AFX